Zwischen Bauchgefühl und Biochemie
Ernährungstraditionen auf dem Prüfstand

- Ernährungstraditionen auf dem Prüfstand
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Wenn ich durch den Garten meiner Familie streife, die ersten Erdbeeren pflücke oder meiner Oma beim Kochen über die Schulter schaue, wird mir eines bewusst: Hier steckt Wissen. Erfahrungswissen, weitergegeben über Generationen – ganz ohne Ernährungsstudium.
Ich bin gerade auf Heimaturlaub in Oberösterreich. Normalerweise lebe und arbeite ich in Amsterdam als diplomierte Ernährungstrainerin – mit Fokus auf Rezeptentwicklugn und wissenschaftlich fundierter Ernährung. Aber wenn ich ehrlich bin: Die Basics, die unsere Großeltern ganz selbstverständlich gelebt haben, bringen manchmal mehr als jeder Ernährungstrend.
Natürlich ist nicht jeder alte Tipp eins zu eins übertragbar – aber vieles verdient ein zweites Hinschauen. Und so habe ich fünf klassische Ernährungstraditionen aus meiner Familie unter die Lupe genommen – mit viel Respekt, aber auch mit dem Blick einer modernen Expertin.
1. „Zum Essen gehört ein Salat.“ – 9/10
Bei uns stand zu fast jeder Hauptspeise ein Salat am Tisch – ob Gurkensalat im Sommer oder Krautsalat im Winter. Heute weiß ich: Diese Gewohnheit ist Gold wert.
Frischer Salat bringt Bitterstoffe, die die Leber unterstützen, und viele Ballaststoffe, die unsere Verdauung fördern und den Blutzuckerspiegel stabilisieren. Aber: Nicht jeder verträgt rohe Kost gleich gut. Bei Menschen mit Reizdarm oder im Winter, wenn das Verdauungsfeuer etwas schwächer lodert, sind gedämpftes oder gegartes Gemüse oft bekömmlicher.
Mein Tipp: Hör auf deinen Bauch. Ein warmes Ofengemüse mit Apfelessig oder ein lauwarmer Linsensalat kann im Winter eine tolle Alternative sein – mit gleichem gesundheitlichem Effekt.
2. „A g’scheite Mahlzeit braucht Eiweiß.“ – 10/10
Ob es das Frühstücksei, ein Stück Käse zum Abendbrot oder die Suppe mit Linsen war – Eiweiß war bei uns immer Teil des Tellers. Heute ist klar: Das war clever.
Eiweiß ist essenziell – für Muskeln, für Hormone, für sattes Sättigungsgefühl. Es verlangsamt die Aufnahme von Zucker im Blut und hilft dabei, Heißhunger zu vermeiden. Gerade ältere Menschen profitieren, weil Eiweiß hilft, Muskelmasse zu erhalten. Aber auch für alle anderen ist es die Basis einer ausgewogenen Ernährung.
Mein Tipp: Versuch, zu jeder Mahlzeit eine Eiweißquelle einzubauen – das kann tierisch (Ei, Käse, Joghurt, Fisch) oder pflanzlich (Linsen, Bohnen, Tofu, Nüsse) sein. Besonders in Kombination mit Gemüse wirkt das wie ein „Blutzuckersafe“.
3. „Reg di net auf.“ – 11/10
Dieser Satz fiel oft – meist beiläufig, aber voller Wahrheit. Und er ist aktueller denn je. Denn während wir heute Superfoods und Supplements feiern, vergessen wir oft das Einfachste: weniger Stress.
Chronischer Stress beeinflusst unseren Körper auf allen Ebenen – er kann zu Verdauungsbeschwerden führen, den Hormonhaushalt durcheinanderbringen und sogar den Blutzucker erhöhen. Und das, obwohl wir „gesund“ essen.
Mein Tipp: Integriere täglich kleine Mikropausen. Ein kurzer Spaziergang, bewusstes Kauen beim Essen, tiefer Atem – das wirkt manchmal mehr als jedes Superfood. Und: Iss nicht, wenn du komplett gestresst bist. Dein Körper kann in diesem Zustand kaum gut verdauen.
4. „A bisserl Fleisch braucht der Mensch.“ – 5/10
Früher war Fleisch etwas Besonderes – es stand nicht täglich auf dem Tisch, aber wenn, dann war es ein Zeichen für Wohlstand und gute Versorgung.
Heute wissen wir: Tierische Produkte liefern wichtige Nährstoffe wie Vitamin B12, Eisen und Omega-3-Fettsäuren. Aber der tägliche Fleischkonsum ist weder nötig noch gesundheitsförderlich – vor allem nicht in verarbeiteter Form.
Mein Tipp: Weniger, aber besser. Hochwertige Bio-Eier, ein Sonntagsbraten vom Hof oder etwas Fisch in der Woche reichen aus. Pflanzliche Alternativen wie Linsen, Tofu oder Hafer liefern ebenfalls viele Nährstoffe – und lassen sich heute richtig gut zubereiten.
5. „Feste feiern, wie sie fallen.“ – 9,5/10
Ob Kirtag, Geburtstagsrunde oder Nachmittagskaffee – bei uns wurde immer gefeiert. Und gegessen. Mit Liebe, Lachen, Kuchen und manchmal auch einem Stamperl Schnaps.
Heute sagen viele: „Das darf ich nicht essen.“ Aber Genuss, Geselligkeit und gute Stimmung sind ein enorm unterschätzter Gesundheitsfaktor. Studien zeigen: Wer mit Freude isst, verdaut besser – und lebt länger.
Mein Tipp: Es ist völlig okay, zu genießen – auch mit Kuchen oder einem Glas Wein. Wichtig ist das Maß, nicht der Verzicht. Wer das Leben mit allen Sinnen schmeckt, lebt oft gesünder, als jemand, der alles kontrolliert.
Fazit: Alte Weisheiten neu gedacht
Unsere Großeltern hatten nicht das Wissen über Mikronährstoffe oder das Immunsystem und den Darm – aber sie hatten ein feines Gespür für das, was dem Körper gut tut.
Und genau da beginnt moderne Ernährung: beim Verstehen, nicht beim Verbieten. Beim Fühlen, nicht beim Zählen. Ich glaube: Wir können viel lernen – wenn wir Biochemie und Bauchgefühl wieder zusammenbringen.
💬 Und du? Welcher Ernährungstipp deiner Oma lebt bei dir weiter? Ich freue mich, wenn du ihn mit mir teilst – ob beim nächsten Dorffest oder online. Vielleicht steckt auch in deinem Familienrezept ein kleiner Aha-Moment.



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